zu berichten ist von einem konzert, das in seiner qualität, einzigartigkeit und tiefen emotionalität nicht nur in luzern beachtung hätte finden sollen, sondern weit über die schweiz hinaus.

allein: nicht nur in luzern, auch in zürich und bern wurde dem konzert wenig beachtung geschenkt, und es befanden sich nicht in jedem fall gleich viele besucherInnen im publikum, wie sich musikerInnen auf der bühne befanden. ich spreche von der markuspassion auf das erhaltenen textbuch picanders, das johann sebastian bach für die vertonung seiner verschollenen passion nutzte. nikolaus matthes, historisch ins detail informiert, (was sich den zuhörenden während der aufführung ohne jeden zweifel erschlOSS) hat diesen text neu komponiert - vollendet weit über das rein handwerkliche hinaus, in zarteste verästelungen von musikalität, architektur, tonartencharakteristiken und annähernd sensitiver emotionalität.

(exkurs: was luzern betrifft, von dem ich nun seit jahrzehnten kulturell verfolgt werde, war das ausbleiben einer vollen matthäuskirche nicht erstaunlich, sondern zu erwarten: hier gilt als kultur, was event ist, oder gerade noch haarscharf an demselben vorbeischrammt. selbst guggenmuusigen, sing-alongs mit bier und kinoevents mit dinner (auch wenn eigentlich dinner mit kino; aber öppis spannends; schon independent-filme, bewahr uns vor dem hühnervogel, kommen nicht in frage) nehmen für sich im vorauseilenden brustton der entrüstung fördergelder aus jedem erdenklichen fördertopf in anspruch. die verantwortlichen dergestaliger projekte stellen sich als zentrale exponenten des kulturellen lebens dieses lieblichen kantons vor, eines kantons, indem die svp soeben drei neue sitze im kantonsrat erobert hat. die kantonalpartei verkündet in ihrem parteiprogramm (leporello auf der parteieigenen webseite): „Kultur erhält die Traditionen der Schweiz und schafft Zusammengehörigkeit. Diese Form der Kultur braucht keine Subventionen.“ ungeachtet der tatsache, dass für schweizerische traditionen und ihre pflege in diesem land millonen an staatsgeldern ausgegeben werden, vermute ich, dass es sich umgekehrt verhält: dass alles, was nicht zu den traditionen der schweiz gehört, kultur ist, und dass alles, was nicht mehrheitsfähig an einer schwinget erlebt werden kann, (ich erinnere mich beispielsweise an ein grossartiges improvisationskonzert für drei präparierte spinette im mullbau luzern) dringend fördergelder braucht, soll unsere gesellschaft nicht vor die hunde gehen. klammer geschlossen - darüber wollte ich eigentlich nicht reden, es wäre aber ein fehler gewesen, es nicht zu tun. in einem staat mit millionen von menschen aus andern kulturkreisen kultur als  erhaltung schweizerischer traditionen zu definieren, ist nationalistisch und der anfang vom ende unserer vielschichtigen und über grenzen hinweg offenen gesellschaft.)

im musikalischen bereich: (das lucerne festival kann nicht als zur luzerner kulturszene gehörig betrachtet werden) eine vitale barockszene ist in luzern inexistent, wohl aber gibt es einige ensembles, die ihr musizieren als historisch informiert definieren. umso schlimmer: im falle der markuspassion, auf die ich zu sprechen kommen möchte, sah sich keine einzige zeitung, kein magazin, kein onlineformat am ort bemüssigt, auch nur eine zeile über die aufführung in der matthäuskirche zu schreiben. von radio- oder fernsehstationen will ich schon gar nicht reden: es gab ja kein dinner dazu, keinen film, keine guggerkostüme.

schlichtweg und deutlich gesagt: ein totalausfall der presseregion luzern.

folgendes: einige der besten musikerinnen und musiker der barockszene europas haben sich zusammengefunden, um dieses werk zu erarbeiten und aufzuführen: eine herausragende continuogruppe, einige der besten solistinnen und solisten im gesangsbereich, hocherfahrene und inspirierte instrumentalistInnen, wie traversos, blockflöten, gamben, celli, oboen, hörner, violen und violinen, (schon aufgrund der namen im programm hätte es der hiesigen presse dämmern müssen, dass aussergewöhnliches bevorstand) ein chor von enormer leistungsfähigkeit, changierend zwischen bach und atemberaubend modernen ausbrüchen - sie alle liessen sich auf das musizieren ohne netz ein, in äusserster empfindsamkeit und frische, angeleitet vom charismatischen dirigenten und komponisten nikolaus matthes.

zur komposition: das textbuch hat matthes von grund auf neu vertont. das polyphone geschehen, beim ersten hören ganz im stile bachs, weist weit über diesen hinaus, und eröffnet momente, die durch enharmonische verwandlungen, äusserste intensität der modulationen und die häufigkeit von trugschlüssen und andere verrückt-heiten, weit über die zeit bachs hinausweisen, das werk immer wieder als auch zeitgenössisches kenntlich machen. als würde bach heute rückwirkend eingreifen, bis zur demontage seiner ordnungsprinzipien ins fast zwölftönige, mit berührenden romantischen anklängen, grossen bögen, wilden, verzweifelten momenten. die ergriffen- und berührtheit des publikums war spürbar. als beispiele zu erwähnen in diesem zusammenhang sind die grosse arie für tenor solo und traverso, ein meisterwerk der verinnerlichung und meditation, der im wahrsten sinne des wortes todtraurige und hochemotionale schlusschor des ersten teils, der das zeug hätte, in die musikgeschichte einzugehen, die „kreuzige“- chöre, in denen schrecken und einsturz der mitmenschlichkeit, gerade auch im sinne der zeitgeschichte, hörbar werden, immer wieder die überreich harmonisierten choräle, in unfassbaren originalität, eben im stile bachs, und doch ganz und gar nikolaus matthes, das publikum keinen moment in falscher ruhe oder sicherheit belassend - und der grosse, versöhnliche siciliana-schlusschor, bei dem wohl allen, musizierend oder zuhörend, gefühle von trauer, verzweiflung, freude und versöhnlichkeit gleichzeitig durch herz und seele gingen.

die tiefe emotionalität dieser stücks ist wegweisend für die heutige musik, ganz und gar natürlich und zwingend. ich verweise auf den artikel roland zags: „aus der tiefe“ - vom schicksal der neuen musik im deutschsprachigen raum, lettre 140 (europas kulturzeitung) zufällig jetzt im märz 23 erschienen, in welchem er ausführlich die grossflächig fehlende emotionalität der neuen musik nach 1945 konstatiert, erforscht und die historischen wurzeln dieses mangels herleitet. auch auf grundlage der von ihm beschriebenen sachverhalte ist ein zeitgenössisches werk solcher dimension wichtig, da es erschüttert, aufwühlt, über tage weiterwirkt in der konfrontation mit einem uralten text, darüber, wie einer fertiggemacht wird, in konfrontation mit den stilmitteln bachs und dem aufbrechen derselben in die musik von heute, ohne nur einen moment in beliebigkeit abzugleiten oder den affekt barocker musik und die emotionalität, das seelische komplexe leben des modernen menschen aus den augen zu verlieren. zu dieser emotionalität gehört auch die farbigkeit der orchestrierung: cembalo, orgel, fagott, gamben, violen, kontrafaggot, tragen erheblich zu tiefe, vibration (fast möchte ich sagen: vibes) und boden, auch seelischem boden, bei.

dirigat: im wissen darum, dass vor ihm aussergewöhnlich kompetente fachleute sitzen und stehen, lässt matthes sein ensemble spielen, musizieren, singen, sich finden, sich verlieren, formieren, zu hochform auflaufen. hier wird nichts unterdrückt, sondern noch nach dem verklungenen schluss einer nummer eine bewegung in aller ruhe zu ende dirigiert - die bemerkenswerte, nicht zu verortende transzendenz dieser musik hat vielleicht auch mit der art des dirigierens zu tun: gemeinsam gehen wir durch diese passion, entdecken sie und lassen sie klingen. eine derart hochkomplexe partitur so logisch, sanft (fast möchte ich sagen: liebevoll) und kraftvoll zu musizieren ist grosse kunst, die man seinem ensemble nicht entreissen, sondern nur wachsen und gedeihen lassen kann. nikolaus matthes muss ein mensch sein, der nichts dem zufall überlässt in komposition, planung, vorbereitung, auswahl seiner leute - und der gerade darum im entscheidenden moment des musizierens loslassen kann, entstehen lässt, selbst das publikum wahrzunehmen scheint, mit den stimmungen des raums arbeitet.

die beiden evangelisten tragen wesentlich zur einzigartigkeit dieses passion bei. auch dies eine so wunderbar zeitgenössische idee: partnerschaftlich wird der für eine seele zu schwere stoff vermittelt, mit zwei verschiedenen stimmen und stimmungen, mitteilend: einer allein genügt nicht, nicht mehr, um das grauen unserer zeit zu erzählen, zu tragen. dass beide evangelisten auch arien singen, verstärkt die komplexheit dieser partitur im tiefenpsychologischen sinne.

wie weiter? zutiefst berührt, wohl nie mehr in der lage, eine passion bachs zu hören, ohne dass sie durch diese vertonung nikolaus matthes neu klingen würde, ebenfalls moderner, in ihren tiefen, im subkutanen, als noch tragischer kenntlich gemacht, und mir in diesem hinhören, hinsehen, emotionalen mitgehen eine warnung vor menschlicher bösartigkeit, weniger in der unfähigkeit zu trauern (a. und m. mitscherlich) gefangen, bin ich doch gleichzeitig bekümmert über die vollständig fehlende reaktion des öffentlichen kulturellen echo-raums. wenn das FBO im planetarium die jahreszeiten eines vivaldi (wir haben sie schon das eine oder andere mal gehört) für ARTE einspielt, mit dem nimbus der modernität ausgestattet, wäre es doch dringend, dass diese markus-passion für ARTE eingespielt würde, um sie einer breiten öffentlichkeit vertraut zu machen, da sie tatsächlich einzigartig und aufrüttelnd ist. SRF hätte gleichermassen den auftrag, diese produktion einzuspielen und zu senden, da sie zum bedeutenden fundus der musikproduktion der letzten jahre in der schweiz gehört. die passion müsste ebenso am bachfest leipzig erklingen, als kommentar zur bachforschung und zur musik bachs aus heutiger sicht. und von dort aus bekannt werden, für viele menschen zugänglich, um berührt zu werden und, daraus resultierend, berührbarer.

so bleibt mir nur eines: danke zu sagen! dem schöpfer dieses werks, nikolaus matthes, und allen, die diese musik für die welt zum klingen gebracht  haben - denn dass dieses werk nun existiert und aufgeführt wurde ist das allerwichtigste. bach selbst hat beispielsweise seine h-moll messe nie gehört. um wieviel besser steht es nun um dieses werk, die markuspassion von nikolaus matthes, das bereits aufgeführt, aufgenommen und von vielen gehört wurde. untergehen wird diese musik nicht mehr.

„…Musik. Du uns entwachsener / Herzraum…“ schreibt rilke in seinem gedicht: An die Musik.

dieser günstigste, zutiefst menschliche fall, dass musik sich manifestiert aus den tiefen unserer herzenskraft und unseres herzraumes, uns erschüttert und tröstet, ist mit dieser passion eingetreten.

pius strassmann, april 23


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Authorpius strassmann